Ausstellungsansicht Stadtgalerie Saarbrücken, Foto: Oliver Dietze
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1. März 2022

Zwischen Dokumentation und Kunst

Mit Lukas Ratius und Anna Ehrenstein zeigt die Stadtgalerie Saarbrücken zwei sehr unterschiedliche Formen von Fotografie. Eine spannende Gegenüberstellung.

Seit anderthalb Jahren leitet Katharina Ritter nun die Stadtgalerie Saarbrücken. Erst war sie Interimsleiterin als Ersatz für die zur Stiftung Saarländischer Kulturbesitz gewechselten Andrea Jahn, seit April des vergangenen Jahres ist sie offiziell in ihrer Funktion. Ritter trat in große Fußstapfen, hatte doch Jahn die Stadtgalerie nicht nur aus dem Dornröschenschlaf geweckt, sondern dem Haus mit Ausstellungen von national und international renommierten Künstlerinnen und Künstlern auch bundesweit zu viel Aufmerksamkeit verholfen. Ritter hat selbstbewusst nie versucht, Jahn einfach zu kopieren und geht ihren eigenen Weg. Sie verankert das Haus stärker in der Region, zeigt neben internationalen Größen auch viele Kunstschaffende der Großregion und bemüht sich darum, Kunst in die Stadt zu tragen und damit Diskurse zu befeuern.

In der aktuellen Ausstellung zeigt die Kuratorin neben dem saarländischen Fotografen Lukas Ratius die deutsch-albanische Künstlerin Anna Ehrenstein. Ehrenstein eröffnet mit ihrem multidisziplinären Ansatz neue Sichtweisen auf unsere Welt. Ihr Themenspektrum reicht von Digitalisierung und Medien über Machtstrukturen, Migration, Geschlechteridentität, wichtig ist ihr? aber auch die Rolle der Kunst und der Künstler. Geschickt verstrickt sie viele Fragestellungen, was ihre Arbeiten sehr komplex macht. Das fordert dem Betrachter einiges ab, weil man sich darauf einlassen muss. Ehrenstein vereint in ihren Installationen Fotografie, Video und Skulpturales zu einem grell-bunten Universum. Für die aktuelle Arbeit in der Stadtgalerie „Tupamaras Technophallus“ hat sie mit dem im kolumbianischen Bogotá ansässigen Performance-Kollektiv „House of Tupamaras“ zusammengearbeitet. Höhepunkt der Ausstellung ist eine 360°-Videoinstallation. Anfangs verwehrt man sich der schrill-queeren Videowelt, gibt man sich aber Zeit, saugt der Kreis den Betrachter in die bunte Welt des Voguing ein, jener Subkultur, in deren Mittelpunkt das extrovertiert-expressive Tanzen in gewagten Outfits steht. Die Protagonisten des Künstlerkollektivs tanzen um den Betrachter, Singen, Knutschen und geben Interviews. Die Ausstellung sollte man unbedingt hier beginnen, um die skulpturalen Objekte im Ausstellungssaal besser zu verstehen.  Im Zentrum dieser Objekte stehen inszenierte Porträts und szenische Aufnahmen einer Welt zwischen Krieg und Frieden. Jedes kleinste Detail ist dabei wesentlich, nichts ist dem Zufall überlassen. Die fröhlich-bunte Welt steht im Gegensatz zur Wirklichkeit, in der die queere Szene Lateinamerikas steckt, die von Unterdrückung und Gewalt geprägt ist. Das Spektakel von „Tupamaras Technophallus“ wirkt ein bisschen wie Selbstermunterung der Künstler und zugleich Ausblick auf eine Welt, in der die Lebensfreude siegt.

Ausstellungsansicht Lukas Ratius: „Der Apparat und andere Geschichten“ in der Stadtgalerie Saarbrücken. Foto: Oliver Dietze

Der Wechsel in die Ausstellungsräume im Obergeschoss zu Lukas Ratius‘ „Der Apparat und andere Geschichten“ könnte drastischer nicht sein. Während Ehrenstein die Welt in poppig-bunte Farben taucht, ist Ratius ein stiller Chronist des Lebens in der Region. Mit seinen Alltags-Dokumentationen macht Ratius Dinge in unserem Umfeld sichtbar, die wir sonst kaum wahrnehmen. Im Zentrum der Ausstellung stehen Fotografien aus dem Fotobuch „Der Apparat“, das im vergangenen Sommer erschienen ist. Der Saarbrücker erlaubt uns einen Blick hinter die Kulissen des saarländischen Staatsapparates. Wir blicken in die Asservatenkammer der Staatsanwaltschaft Saarbrücken, hinter Gefängnismauern und werden mitgenommen in die Polizeiinspektion St. Johann. Ratius ist kein Dokumentarfotograf, sondern künstlerischer Fotograf, der seine Motive über bewusste Ausschnitte komponiert. Etwa wenn er die Schuhe eines Delinquenten ablichtet, die vor der Zellentür in der Polizeiinspektion stehen, oder wenn er das Waschbecken im Badezimmer zweier Patienten in der Forensischen Psychiatrie in Merzig festhält. Immer wieder werden scheinbar banale Nebensächlichkeiten zum Ausdruck von Gefühlen, die man in den jeweiligen Situationen spürt: Beklemmung, Unwohlsein und Betroffenheit. Im Werkzyklus „Die Stadt der Städte“ streift Ratius ohne Ziel durch die Stadt und zeigt uns seinen Blick auf Saarbrücken. Wir sehen städtische Szenerien, Kulturlandschaften und Porträts von Bewohnern. Ratius‘ Fotos eröffnen den Blick auf längst Bekanntes neu: Es sind Blicke in schmuddelige Ecken, trostlose Nischen und architektonische Ödnis, aber auch einfühlsame Aufnahmen von den Menschen in der Stadt. Die Fotografien sind bewusste Einladung zum differenzierten Sehen.

Lukas Ratius und Anna Ehrenstein, bis 15. Mai 2022, Stadtgalerie Saarbrücken

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